Es knackt, es raschelt, dann ein Knuspern. Ich schiele verstohlen zu meinem Kollegen. Ich glaube er beobachtet mich. Ich beginne zu kauen. Langsam. Kann er mich hören? Seine Gedanken höre ich jedenfalls ganz deutlich oder bilde ich mir das ein? Was auch immer. Ich zerquetsche die Packung in meiner Faust und lasse sie formvollendet über ihn hinweg in den Mülleimer plumpsen. Nowitzki wäre stolz auf mich. Es ist morgens halb zehn in München und ich habe bereits die erste Tafel Schokolade auf dem Gewissen.
In Starnberg hatte man sich bereits an meinen Spleen gewöhnt. Aber seit ich in München sitze und ein dm nur 200 Meter entfernt ist, gibt es für mich keine Ausrede mehr, keine Schokolade zu essen. Denn das hat Gründe. Nur leider versteht mich keiner. Und das verstehe ich nicht.
Dabei ist es doch so: Jeder Mensch hat Laster. Bei dem einen sind es Videospiele, für den anderen Kippen und bei mir ist es Schokolade. Schokolade ist für mich sowas wie der Sprit, der meinen Motor am Laufen hält. Nicht umsonst quittiert meine Mitbewohnerin jeden Ansatz, das zu ändern, mit einem entsetzten „Oh Gott!“. Denn ohne meinen Sprit werde ich ungemütlich, so wie andere Leute ohne Kaffee ungemütlich werden. Oder Kippen. Ich brauche Schokolade zum Wachwerden und zum Wachbleiben. Wenn ich nicht boxen gehe, ist es sogar noch schlimmer: da leidet nämlich die Konzentration und das Mittel dagegen – ihr habt es erraten – Schokolade.
Normalerweise ist das kein Problem. In der Uni bin ich „die, mit der Schokolade“, bei Freunden bin ich halt ich und Oma und Geschwister versorgen mich zu jedem Feiertag regelmäßig mit Nachschub. Wo man mich kennt, ist meine Schokolade kein Problem. Hier in München führt sie allerdings zu allerhand Gerüchten. Und dabei wollte ich doch einen möglichst guten Eindruck machen!
Der große Schock traf mich beim Kantinenlunch mit einem Co-Praktikanten. Es war ein furchtbarer Tag, der schon um 8 Uhr einen unheilvollen Kurs genommen hatte. „Ich hab heute morgen meine Schokolade bei dm liegen lassen!“, seufze ich gleich als erstes. Ich muss fertig aussehen.
Kurz herrscht Schweigen, er verzieht eine Miene. Die dramatische Beileidsbekundung, die ich mir erhofft hatte, bleibt aus.
„Du isst gerne Schokolade, oder?“
Ich muss grinsen, bei dem Thema kommt Leidenschaft auf. „Ja, klar! Ich dachte schon, ihr haltet mich alle für bekloppt deswegen.“
„Ne ne, ist mir nur aufgefallen.“
Es folgt ein Monolog über die Vorteile von Schokolade als Wachmacher und, dass ohne sowieso alles scheiße ist. Als ich bei Antioxidantien im Kakao angelangt bin, grinst er mich an.
„Ich dachte erst, du isst die wegen Gras! Davon kriegt man ja mega den Heißhunger.“
Ich stutze. Keine Frage, er meinte es ernst. Das Argument ist mir neu und nachdem ich meine Tafel bei dm abgeholt habe, kehre ich verdattert an meinen Schreibtisch zurück. Kauend mustere ich meine Arbeitskollegen. Sie sind jung, sie kennen sich aus. Kann es sein, dass alle Welt mich seit Jahren für einen Weedhead hält? Und die einzige, die das nicht weiß bin ich? Es würde so vieles erklären.
Die kommenden Tage verbringe ich damit, das Gerücht vom Gras-affinen Schokoladenmonster zu zerstreuen. Wäre ja noch schöner, den Ruf wird man ja nie wieder los! Ob sie mir glauben? Ich weiß es nicht. Mein Blick auf die Welt ist seit dem Kantinenlunch ein anderer geworden. Mache ich irgendwas falsch? Sollte ich Schluss machen mit der Schokolade? Ich rufe mir das „oh Gott!“ meiner Mitbewohnerin in den Sinn. Nein, keine Schokolade ist auch keine Lösung. Ich lasse den Kopf auf die Tischkante sinken. Ich bin traurig, müde und verzweifelt. Ein Knacken, ein Rascheln, dann ein Knuspern. Versonnen kaue ich an meiner Schokolade. Die Welt ist wieder in Ordnung.