Dieser Beitrag ist Teil der Serie #Waldtagebuch. Zum ersten Beitrag geht es hier.
Keyenberg, 02.06.21 – „Nächste Woche machen wir dann mit der Beneventana weiter“, sagt mein Prof. Ich winke zum Abschied in die Kamera und klappe den Laptop zu. Das erste Seminar im Baumhaus habe ich überstanden.
Ich strecke mich und blicke müde auf das Grün vor dem Fenster. Der Tag von gestern steckt mir noch in den Knochen. Fünf Stunden haben Timon und ich einem befreundeten Biobauern auf dem Feld geholfen. Eigentlich ein schöner Tag, aber viel zu schnell vorbei.
Gemütlich suche ich meine Sachen zusammen und klettere die Leiter hinunter in den ersten Stock. Der Tower, ein dreistöckiges Baumhaus mit Küche und mehreren Schlafräumen, ist das Herz der Besetzung am Rande von Keyenberg. Fürs erste ist er aber vor allem eines: mein Zuhause. Die anderen Baumhäuser, die nur über Seile zu erreichen sind, habe ich bislang nur von unten gesehen. Wird Zeit, dass ich meine Kletter-Skills etwas aufmotze.

Draußen empfängt mich der späte Vormittag mit lauer Luft und strahlendem Sonnenschein. Die niedrigen Baumwipfel leuchten in sattem Smaragdgrün und wippen mir zur Begrüßung zu, als ich vorsichtig die letzten Treppenstufen hinuntersteige. Unten angekommen, begebe ich mich auf den Trampelpfad, der aus dem Wald heraus und zum Bolzplatz führt. Ich spüre den Waldboden unter meinen nackten Füßen und verfluche bei jedem spitzen Stock die babyzarte Haut an meinen Fersen.
Noch liegt Morgentau auf der frisch gemähten Bolzwiese und die Vögel des umliegenden Waldes geben ihr tägliches Open-Air-Konzert. Ich überquere die Wiese, trete durch einen letzten Ring aus Bäumen und erreiche den Bachlauf, der unter einer Allee von Linden zwischen den Feldern plätschert.
Ich bin in einer Astrid Lindgren Geschichte gelandet, denke ich, als ich mich ausziehe und in das wadentiefe Wasser wate. Die Kälte ruft mich zurück in die Realität. Ohne den nahegelegenen Tagebau gäbe es den Bach nicht. Seit Jahren pumpen sie hier das Grundwasser aus der Erde, damit in Garzweiler die Kohle geschürft werden kann. Das Wasser leiten sie über den Bach in einen nahegelegenen Fluss ab. Das Blut eines geschächteten Landes, bereit zum Verzehr.
Traurig blicke ich mich um. Keiner weiß, wie lange die Bäume die Trockenheit noch aushalten. Manche Felder werden schon seit einem Jahr nicht mehr bestellt. Eigentlich ist das Paradies vor meinen Augen schon verloren. Ein letzter Nachhall, bevor alles verdorrt. In vier Jahren werden sie entscheiden, ob das Dorf abgerissen werden soll.
Ich beschließe, die traurigen Aussichten vorerst beiseite zu schieben und beginne mich zu waschen. Du bist hier, denke ich. Du kämpfst für das Dorf und den Wald, du versuchst alles. Aber noch ist das Paradies da. Genieße es, solange es geht.
