Bonn, 31.05.21 – Ich stöhne erleichtert auf, als ich den Rucksack hinter mir auf die Bank fallen lasse. Ich setze mich, ziehe die Maske an und mustere die Anzeigetafel am Bahnsteig. Noch 5 Minuten, Punktlandung.
Neben mir haben zwei Damen Platz genommen, sie unterhalten sich angeregt. Hin und wieder spüre ich ihre Blicke, die mich neugierig mustern. Obwohl ich ihre Sprache nicht verstehe, höre ich das Wort „Militär“ heraus.
„Entschuldigung, kann ich Sie etwas fragen?“
Überrascht wende ich mich um.
„Haben Sie schon mal jemanden getötet?“
Für einen Moment verschlägt es mir die Sprache. „Ich bin nicht vom Bund“, sage ich eilig. „Sieht nur so aus.“
Das Gegenteil ist der Fall, will ich hinzufügen, ich lasse es. Vermutlich würden Sie es nicht verstehen. Die beiden Frauen tuscheln erneut.
„Fahren Sie in Urlaub?“
„Äh, so ähnlich“, antworte ich knapp. „Camping.“
„Wo müssen Sie hin?“
„Hochneukirch.“
„Ah das ist weit.“
„Immerhin kann ich durchfahren.“ Ich lächle der Frau durch die Maske hindurch zu und wende mich ab.
Als ich wenige Minuten später im Zug Platz nehme, komme ich ins Grübeln. Obwohl ich mir keiner Schuld bewusst bin, hat mich die Frage geschockt. Zugleich bin ich seltsam peinlich berührt. Sehe ich wirklich aus wie jemand, der schon mal getötet hat? Ich blicke an mir herunter. Das grüne Hambi-Shirt, khaki Shorts, Springerstiefel. Ich sehe aus wie Lara Croft.
Wie hätte es sich angefühlt, wenn ich wirklich jemanden getötet hätte? Hätte ich es zugegeben oder gelogen? Die Frage der Frau beschäftigt mich. Ganz schön heftig. Jetzt schäme ich mich fast für den großen Militärrucksack, den ich von meinem Bruder geliehen habe. Er ist nicht einmal tarnfarben. In unschuldigem Olivgrün sieht er mich von der anderen Seite des Sitzes an.
So ein Riesenrucksack wirft Fragen auf, bringt Fremde dazu, ein Gespräch anzufangen. Wie damals nach Ende Gelände, als wir erschöpft aber glücklich in unseren weißen Maleranzügen die Bahn vollstanken. Vor dem Fenster zieht ein Kohlekraftwerk vorbei. Auch wie damals. Die weißen Dampfschwaden scheinen mir zuzuwinken: Willkommen im Rheinischen Revier!

Vielleicht sind es die Umstände, die mich so militant wirken lassen. Während der Rest der Welt ausblendet, was hier geschieht, werde ich die kommenden Monate genau hier an der Front verbringen. Kohleindustrie gegen Klimabewegung. In Gedanken sehe ich die Anzeigenüberschrift vor mir: „Tausche WG-Zimmer gegen Baumhausbesetzung“. Garzweiler, ich komme.
Die Häuser vor dem Fenster werden einsamer. Viel Feld, immer wieder Kraftwerke, daneben Bauernhof-Idylle. Irgendwann nichts mehr. Die Gruben der Tagebaue Garzweiler I und II erkennt man am leeren Horizont. 11.400 fucking Hektar. 20 Dörfer sind ihnen bereits gewichen, sechs weitere sollen vor dem Kohleausstieg noch folgen.
Eine Stunde nach Abfahrt erreiche ich Hochneukirch. Am Bahnhof schwinge ich mich auf mein Fahrrad und radle in Richtung Keyenberg. Als ich über eine Brücke komme, sehe ich, wie unter mir die Autobahn abrupt endet. Keine 50 Meter weiter liegt die Abbruchkante. Jeder kann töten, denke ich, als ich in die Grube blicke. Ich hoffe, ich muss es nie. Einstweilen kämpfe ich für das Leben.
Dieser Beitrag ist Teil der Serie #Waldtagebuch. Alle Beiträge der Reihe findest du hier.
