Credits Titelbild: Ron Weimann Fotografie | Lichtblicke & Schattenseiten
Wer sich ins Rheinische Braunkohlerevier begibt, macht sich zugleich auf den Weg ans Ende der Welt. Meine erste Fahrt trat ich im Juni 2019 an. Wir waren auf dem Weg zu einer Aktion von Ende Gelände, einer Klimaprotestgruppe, die sich gegen die fossile Brennstoffgewinnung durch Kohle einsetzt. Um 12 Uhr startete unser Zug vom Bonner Hauptbahnhof, zwei Stunden später waren wir in Viersen.
Ich erinnere mich noch gut an die Fahrt, das viele Umsteigen und aus dem Fenster gucken. Obwohl ich aus dem Rheinland komme, war das Rheinische Revier für mich bis dato ein Rätsel, eine ganz andere Welt. In Städten wie Köln oder Bonn ist es leicht, die Orte auszublenden, an denen wir für unseren Strom die Erde aufreißen. Dort verschwinden ganze Ortschaften – Kirchen, Denkmäler, Bauernhöfe und Familienhäuser – im Stillen.
Nachrichten vom Ende der Welt
Trotz der gelungenen Aktion mit einer dreitägigen Gleisbesetzung am Kraftwerk Neurath, sollte es noch vier weitere Monate dauern, bis ich das erste Mal an der Abbruchkante stand. Auf der Heimfahrt von der Blockade trafen wir in der Bahn einen Mann, der uns – dreckig bis an die Haarspitzen, zu Tode erschöpft und überglücklich – fragte, woher wir kämen. Im Gespräch stellte sich heraus, dass er als Lkw-Fahrer schon einige Male für RWE gefahren war. Jenen Energiekonzern, der die Tagebaue im Rheinischen Revier fest im Griff hat und für viele Anti-Kohle-Aktivist_innen das Feindbild Nr. 1 darstellt.

Er erzählte mir von einem guten Freund, der das Pech gehabt hatte, in einem Dorf zu leben, das weniger wert war, als der Profit, den Deutschlands größter Stromversorger in der Erde unter ihm sah. Nachdem er sich geweigert hatte, sein Haus, in das er viel Geld gesteckt hatte, unter Wert an RWE zu verkaufen, wurde er ohne Entschädigung zwangsgepfändet. Der Freund, erzählte der Mann, hatte sich kurz darauf das Leben genommen.
Das Verschwinden der Dörfer ist ein offenes Geheimnis, über das keiner spricht.
Die Begegnung traf mich bis ins Mark, zugleich ist diese Geschichte nur eine von vielen. Im Rheinischen Revier zählt der Wert eines Dorfes nur so viel, wie der Boden, auf dem es steht. RWE ist der größte Arbeitgeber der Region. Alle dort wissen von den Geisterdörfern, kennen gar die Bewohner oder sind mit ihnen verwandt. Und doch zählen jene zu den wenigen, die die Öffentlichkeit suchen und sich unermüdlich für den Erhalt ihrer Heimat einsetzen.
Hundert Meter vom Dorf das Nichts

Wirklich begreifen tut man das Ausmaß aber erst, wenn man dort war, direkt an der Abbruchkante. Sieben Tagebaue gibt es im Rheinischen Revier, Garzweiler ist der größte von ihnen. Allein für ihn wurden seit 1959 sechzehn Dörfer abgerissen und umgesiedelt, bei einigen ist der Prozess in vollem Gange. Orte wie Keyenberg, Lützerath oder Kuckum kämpfen derzeit um ihr Überleben. Die Großzahl der Bewohner hat ihre Häuser bereits verlassen, ein Spaziergang dort fühlt sich gespenstisch an. Und hundert Meter vor dem Dorf beginnt das große Nichts.
Man vergisst leicht, wenn man der Allmacht eines Energiekonzerns ausgeliefert ist, der die Region besitzt, in der man lebt.
In den folgenden Beiträgen zum Thema #Heimatdorf will ich einige der bereits verschwundenen und einige der schwindenden Dörfer in die Städte bringen. Man kann leicht vergessen, wenn man die Geschichten nicht kennt oder der Allmacht eines Energiekonzerns ausgeliefert ist, der die Region besitzt, in der man lebt. Visuell begleitet wird das Projekt von Anina Boedecker, die sich als Klimaaktivistin gegen den Braunkohleabbau einsetzt. Ein großer Dank geht auch an die vielen Dorfbewohner_innen und Aktivist_innen, die sich seit Jahren für den Verbleib der bedrohten Dörfer einsetzen und uns sehr bei unserer Arbeit unterstützt haben.
Dieser Beitrag ist Teil der Serie #Heimatdorf. Den nächsten Artikel findest du hier.
